Wir verlassen Syrakus und tauchen ein in den einsamen Süden, Richtung Vendicari. Ein herrliches Naturschutzreservat lädt zum Baden ein. Dünen über Dünen. Aber Achtung, hier wird streng darüber gewacht, dass niemand auf diesen sensiblen Sandgebilden herumtrampelt. „Vendicari gibt uns eine Vorstellung davon, wie Sizilien aussehen könnte, hätte der Mensch nicht so brutal Hand an die Insel gelegt. Und deshalb wollen wir mit diesem letzten Paradies respektvoll umgehen“, sagt Fabio, der über dieses Reservat mit Argusaugen wacht. Bisher gelingt es ihm gut, Spekulanten, Vandalen und gleichgültige Benützer von diesem Territorium fernzuhalten.
Man spricht viel vom sizilianischen Barock, aber wenige haben eine exakte Vorstellung davon. Eines steht fest: Mit unserem Prunkstil hat es recht wenig zu tun. Er gibt sich theatralisch, aber nicht pompös, niemals drückend-schwer, eher dekorativ-verspielt. Städte wie Ragusa Ibla, Modica oder Noto - sie gehören seit 2003 zum Weltkulturerbe - sind durchgehend von diesem Stil geprägt. Der rosa, sehr weiche Stein gibt den imposanten Kirchen- und Palastfassaden, die an eine riesige Theaterkulisse erinnern, einen Hauch von Vergänglichkeit, was durch die Schäden vieler Erdbeben noch deutlicher wird. Die barocke Herrlichkeit ist verletzlich. Deshalb stützen Tiere, Masken und Fratzen die Balkone, Gesimse und das Gebälk. Ihre verzerrt-leidenden Züge sollen wohl apotropäisch wirken. Aber sie schrecken nicht einmal Katzen ab, geschweige denn den bösen Geist der Zerstörung. In den Gassen dieser Städte spürt man die Vergänglichkeit, die Verletzlichkeit dieser Insel ganz stark, auch wenn schon viele Gebäude hervorragend restauriert sind, wie zum Beispiel die Kathedrale San Nicoló in Noto..
Folgen Sie mir nun quer durch die Insel, immer weiter gegen Westen. Der richtige „Wilde Westen“ ist unser Ziel. Schafe und Kühe weiden auf trockenen Wiesen. Gelbe Weizenfelder und dunkle Olivenhaine werden von kunstvoll gebauten Steinmäuerchen eingerahmt. Es riecht nach Land, die Dörfer nach Verlassenheit. Wir nehmen Quartier in Erice, der mittelalterlichen Stadt hoch über der Westküste. Wenn nicht der fast täglich vom Meer heraufwallende Nebel Gassen, Häuser und das darunter liegende Trapani verhüllt, dann sieht man weit über das Küstenband bis zu den Salinen, zur kleinen Inseln Mozia und Isola Lunga. Bleiben wir ein wenig in Erice, streifen durch die Gassen mit dem Buckelpflaster und den streng mittelalterlichen Mauern und setzen uns in den winzigen Cafésalon der Signora Grammatico. Sie serviert uns eine duftende heiße Schokolade und einen Teller mit ihren Venusbrüstchen. Diese weißen Verführungen lassen wir auf der Zunge zergehen. Mit ihnen zergeht auch das leise Unbehagen, das leicht in einer einsamen Abendstadt aufsteigen kann, besonders dann, wenn die Menschen in ihren Häusern verschwunden sind, und die Stadt den Hunden, den weißen Tauben und den chthonischen Göttern gehört, denen Erice einst geweiht war.
Zu Füßen Erices liegt die helle, strahlende Gegenwelt. Entlang der Küste wird Meersalz gewonnen. Wie mit dem Lineal gezogen und gemessen reihen sich die Salzhügel in glänzendem Weiß. Dazwischen schimmert das intensive Blau des Meeres. Das alles ist sehr malerisch anzuschauen, aber die Arbeit hier ist schwer und nicht ungefährlich für Augen und Lungen. Viele andere Arbeitsmöglichkeiten haben die Menschen hier nicht. Der Tourismus kommt nur bis Palermo. Trapani hätte zwar ein interessantes touristisches Potential, das aber völlig brach liegt.
Wir ziehen weiter, ein wenig in den Süden, in die Gegend, wo der Bühnenautor Luigi Pirandello geboren wurde. Es geschah nicht von ungefähr, dass Pirandello Dramen über Menschen schrieb, die ihr Leben lang auf der Suche nach dem Festen, Sicheren waren, aber immer nur auf Verstörung und Lebenschaos stießen. Fährt man durch die Dörfer und Städte, versteht man das sehr gut.
So zum Beispiel in Sciaccia. Wir kurven zwischen Hochhäusern ziellos umher, landen in einem Hafen, der so was von gestrig, aus der Zeit heraus gefallen ist, dass es sich zu bleiben lohnt. Aber das eigentliche Ziel ist das „Castello incantato“. Das Kastell ist kein Kastell, sondern ein Garten, und der Garten ist nicht mit Blumen, sondern mit Köpfen aus Stein geschmückt. Ineinander und übereinander geschichtet starren sie uns an, unschön, aber faszinierend. Filippo Bentivegna hieß der Künstler, der das Unglück seines Lebens in diese Köpfe meißelte. Eine ungewöhnliche Methode, sich mit dem persönlichen Scheitern auszusöhnen.
Von Mazaro del Vallo geht es ostwärts, ein Stück ins Landesinnere. Die Hügel steigen und fallen in einer sanften Melodie, das Gelb des Weizens wechselt sich mit dem Grün der Weinreben ab. Am Wegesrand blühen Mohn und Margeriten. Auf den Kuppen wie Kletten die Häuser, sich gegenseitig stützend. Doch die Idylle trügt – wie so oft in Sizilien, und besonders in dieser Gegend. Am 15. Jänner 1968 bebte die Erde. Danach war nichts mehr wie früher. Alte Dörfer, wie Gibellina oder Poggireale wurden total zerstört. Doch die Sizilianer sind in ihrer innersten Seele Stehaufmännchen. Sie haben einen deutlichen Hang, das Zerstörte zu sublimieren, zum Denkmal zu erheben. So riefen die Leute von Gibellina den als schwierig verrufenen Künstler Alberto Burri herbei. Der hatte die geniale Idee, die Ruinen von Gibellina einfach mit Beton zu übergießen. Da stehen wir nun vor dem gigantischen Werk: Eine riesige graue Decke breitet sich mitten in einer grünen, idyllischen Hügellandschaft aus und verhüllt die ehemaligen Wegen, Dächer und Mauern des zerstörten Dorfes. Nicht einmal eine Kirchturmspitze ragt heraus. Wir suchen einen Eingang zwischen dem Gestrüpp, irren zwischen den Betonmauern wie in einem Labyrinth umher und sind froh, wieder den Ausgang gefunden zu haben.
Die Überlebenden von Gibellina bauten schnell ein neues Dorf. Aber nicht irgendeines sollte es werden, sondern ein ganz besonderes: Man rief die damals bedeutendsten italienischen Künstler und Architekten herbei, die sollten dem Dorf mit Skulpturen, einem tollen Marktplatz und einer überdimensionalen Kirche Leben und Seele einhauchen. Doch das Gegenteil passierte: Heute ist Gibellina Nuova – das neue Gibellina – ein Ort des Scheiterns: Die Kirche ist eingestürzt, die Markthalle unbenützt und das Theater ein never ending Objekt. Und um die Skulpturen kümmert sich kein Mensch, schon gar nicht die Bauern, für die man Gibellina Nuova baute. Warum ich Sie in diesen Ort führe? – Weil er einerseits für Kunst- und Architekturinteressierte eine wahre Fundgrube ist, aber zugleich vor Augen führt, dass Kunst per se, einfach so in den Raum gestellt ohne auf den menschlichen und natürlichen Kontext Rücksicht zu nehmen, zerbröselt. Außerhalb des Dorfes steht die Skulptur „Montagna di Sale“ (Gebirge aus Salz) von Marco Palladio. Er hat die Situation des Dorfes, seiner Bewohner und der Kunst, die keinen Trost spenden kann, punktgenau erfasst: Da stecken Pferde bis zur Hälfte ihrer Leiber in einem Salzberg, können sich nicht rühren und verrecken. Gruselig.
Genug von Pirandello, von Irritationen und Untergangsstimmungen. Zurück an die heitere Küste, an das tiefblaue Meer. Ganz nahe bei Mazaro del Vallo dehnt sich ein kilometerlanger, leerer Sandstrand. Ein Araber führt hier eine Trattoria mit dem Namen „funduq“. Sein Wein ist ganz sizilianisch: dunkelgelb, süß und herb zugleich. Wie die Insel. Hier bleiben wir und lassen den Tag ausklingen. S.Matras